Zuerst einmal: Verzeihen ist etwas Dialogisches. Zum Verzeihen gehören immer zwei. Ich kann jemandem ganz alleine etwas Verwerfliches antun, selbst in seiner Abwesenheit (z. B. schlecht über ihn sprechen). Aber ich kann mir dergleichen nicht selbst verzeihen. Auch wenn umgekehrt der Beleidigte oder Geschädigte an den Beleidiger denkt und zu sich selbst spricht: „Ich verzeihe ihm“, ist damit allenfalls ein guter Anfang gemacht worden. Das Verhältnis von Vergehen und Vergeben ist nämlich asymmetrisch. Echte Vergebung funktioniert nicht monologisch, sie erfordert das Gespräch, besser noch, dieses in Verbindung mit bestimmten begleitenden Gesten.
Was geschieht beim Vorgang der Vergebung? Man sagt: „Mir ist durch sein Verzeihen eine Last von der Seele – manchmal auch: vom Herzen – genommen worden.“ In der tat fühlt man sich freier, leichter, atmet gelöster. Aber warum? Ist es nur deswegen, weil man glaubt, einen Feind weniger zu haben oder einer latenten Gefährdung verlustig gegangen zu sein? Ich denke, die wahre Erklärung muss tiefer greifen. Man fühlt die abfallende Schuld selbst und nicht nur die wegfallende imaginierte Feindlichkeit. Um dies nachzuvollziehen, genügt es, sich in die Person A des folgenden Beispiels zu versetzen: Diese Person A habe einer andern, befreundeten B eines Tages etwas ziemlich Schlimmes angetan, woraufhin jeder Kontakt abgebrochen worden ist.
Erste Variante: A erfährt nach einiger Zeit, dass B gestorben ist. Ich denke, A ist zwar irgendwie erleichtert aber dennoch nicht im Reinen mit sich und dieser neuen Situation. Die Schuld „drückt“ A sozusagen weiter, möglicherweise sogar mehr als zuvor.
Zweite Variante: Person B schreibt A, dass sie eine Aussprache wünsche. Diese findet auch statt und nach dem Schuldgeständnis seitens A kommt es zum Verzeihen seitens B. Die Schuld „drückt“ kaum noch und nach einigen weiteren freundschaftlichen Treffen womöglich gar nicht mehr.
Das wäre ein Hinweis auf die metaphysische Realität der Schuld. Verzeihen würde dann zu umschreiben sein mit: Das gemeinsame Wiederherstellen eines neutralen oder positiven Verhältnisses zwischen zwei Menschen, welches durch eine verwerfliche Tat eines dieser Menschen zerstört worden war. Diese Wiederherstellung geschieht durch Reue in Verbindung mit einer anerkennenden Aussprache und die darauf folgende akzeptierte Vergebung von Schuld.
Verzeihen hebt das negative, feindselige Verhältnis wieder auf, um das positive oder zumindest das neutrale wieder herzustellen. Dies kann, so sollte deutlich geworden sein, nicht einseitig geschehen, sondern lediglich gemeinsam – und dies auch nur auf eine bestimmte Weise. Der Verursacher der Trennung in ihrem Verhältnis muss seine Schuld eingestehen, diese also anerkennend aussprechen. Der Geschädigte muss daraufhin sein Verzeihen bekunden. Bewährt hat sich ein mit dem gegenseitigen Blick in die Augen verbundenes Reichen der Hände. Gerade Hände spielen im Vorgang des Verzeihens eine nicht zu unterschätzende Rolle.
Damit muss die Sache aber immer noch nicht abgeschlossen sein. Denn der Adressat der Verzeihung braucht diese nicht anzunehmen. Vielleicht wallt eine Wut oder keimt das Empfinden, soeben eine Demütigung zu erfahren, in ihm hoch und er sagt so etwas wie: „Dummes Gequatsche, das alles! Ich habe doch gar nichts Schlimmes getan!“, oder: „Was ich tat, das geschah dir, wenn ich es mir noch einmal überlege, eigentlich ganz recht!“ In diesen Fällen wäre der Versuch der Verzeihung im letzten Augenblick doch noch gescheitert.
Sieht man noch ein wenig genauer hin, so wird deutlich werden, dass das dialogische Geschehen des Verzeihens auch noch so etwas wie eine anthropologische Rahmenbedingung aufweist. Sie liegt in nichts anderem als in dem gegenseitigen stillschweigenden Zugeständnis eines freien Willens. Der, wie wir sahen, gar nicht so simple Akt des Verzeihens ist ein dialogischer und ein freier zugleich. Zwischen Tieren kann so etwas wie Verzeihen nicht stattfinden und verfügten wir Menschen tatsächlich über keinen freien Willen (wie das ja aktuell wieder – etwa von Gehirnforschern – nachdrücklich behauptet wird), so ergäbe die Rede von Vergebung einfach keinen rechten Sinn. Es würde genügen, dass einer der Dialogpartner sozusagen „fremdgesteuert“ agiert (unter Drogen steht, unter Zwangsvorstellungen leidet, sich beispielsweise als akut bedroht empfindet und dgl.), um das Geschehen als einen Vollzug des Verzeihens irrelevant werden zu lassen. Eine in diesem Zusammenhang interessante Frage wäre, ob oder inwiefern das Geschehen des Verzeihens auch dann in Gang kommen kann, wenn einer der Beteiligten – sagen wir, unter dem Eindruck deterministischer Theorien – davon überzeugt ist, dass Willensfreiheit eine bloße Illusion bedeute. In diesem Fall „spielt“ er einerseits gewissermaßen nur ein „Verzeihensspiel“, tut er nur so „als ob“ er Verzeihung suche oder gewähre. Sollte er aber faktisch, entgegen seiner deterministischen Theorien, im Verlaufe dieses „Spiels“ wirklich frei sein, so hat er mehr getan als nur gespielt. Wie somit die richtige Antwort auf die Frage lautet bzw. ob sich hier wirkliches Verzeihen ereignet, dürfte nicht ganz leicht zu sagen sein. Es könnte sich hier aber auch um ein bloßes Scheinproblem handeln, da im Innersten auch der dezidierteste Determinist verspürt, dass er frei etwa einmal die linke und einmal die rechte Hand anzuheben vermag. Und zum Bewusstsein von sich selber als einer verantwortlich denkenden und handelnden Person gehört das implizite Wissen um die eigene Freiheit allemal dazu.
Es stellt nun ein bemerkenswertes Phänomen dar, dass den meisten Menschen Schuldeingeständnisse sehr schwer und einigen anderen solche überraschend leicht fallen. Ein Indiz für besagte Schwere wären etwa die vielerorts eher leeren Beichtstühle in den katholischen Kirchen. Das Sakrament der Beichte geht davon aus, dass jede Schuld auch eine Sünde einschließt, d. h. eine Verletzung des Verhältnisses von Mensch und Gott. Jede Sünde kann vergeben werden, wenn sie ausgesprochen, bereut und nicht gleich anschließend neu begangen wird. Wer selbst zur Beichte geht, wird bestätigen können wie wunderbar entlastend diese zu wirken vermag. Tatsache bleibt dennoch, dass die Beichte seit vielen Jahren gemieden wird. Es ist ein Sakrament in der Krise. Der wichtigste Grund dafür dürfte darin liegen, dass es Überwindung kostet, eigene Schuld einzugestehen.
Es gibt aber auch die anderen, die leidenschaftlich gern von Schuld reden – von der der Mitmenschen aber sogar auch von eigener Schuld! Besonders in der neueren Geschichte des Fernsehprogramms ist eine gewisse „Tribunalisierung“ der TV-Landschaft unverkennbar geworden. Nicht nur, dass erstaunlich viele Richter und Rechtsanwälte die Szene bevölkern – es sind auch Talkshows sehr beliebt geworden, in denen selbsternannte Richter gegen all jene herziehen, die nach ihrer Auffassung (oder nach der der medialen bzw. „medialisierten“ Öffentlichkeit) Schuld auf sich geladen haben. Noch erstaunlicher muten aber gewisse Talk- und Realityshows im Nachmittagsprogramm an, in denen einfache Bürger sich als schuldbeladene, manchmal vor Zerknirschung weinende, gelegentlich auch herausfordernd grinsende Individuen präsentieren, die genau das getan haben oder beständig tun, wovon auch nur zu sprechen für gewöhnlich als Tabu empfunden wird.
Das Ganze wird coram publico verhandelt, welches Publikum die Selbstankläger regelmäßig mit einem verständnisvollen Applaus für ihre große Ehrlichkeit bzw. für ihren Beitrag zur Aufklärung belohnt und damit gewissermaßen stellvertretend für Gott (ganz wie der Priester im Beichtstuhl) von allen Sünden absolviert.
Wie das Bekennen der Schuld sowohl mit Lust als auch mit Frust verbunden sein kann, so auch das Verzeihen. Das Aussprechen der Worte: „Ich verzeihe Dir!“, löst ein erhebendes Gefühl aus, geht manchmal aber auch mit einem gewissen grenzwertigen Pathos einher, das dem Sprecher schmeichelt und innere Genugtuung bereitet. Hat man aber dieselbe Sache bei derselben Person schon mehrfach verziehen, so gesellt sich dem Vergeben nicht selten auch Frustration zur Seite.
Etwa im Kontext der Suchterkrankungen stellt die Rückfälligkeit ein gewaltiges Problem dar. Dabei stellt man fest, dass sich das Verzeihen gewissermaßen „abnutzt“. Es gleicht der Münze, die unter dem Vorzeichen der Inflation ihren Wert verliert. Nachdem der heranwachsende Sohn der Mutter zehn oder zwanzig Mal Geld entwendet hat, um sich dafür Alkohol oder Drogen zu kaufen, büßt ihr Wort: „Ich verzeihe dir!“, zwischenzeitlich deutlich an Gewicht und Wert ein. Und der „Frustationspiegel“ ist seit dem ersten Mal auch deutlich angestiegen. Irgendwann erscheint das Ganze dann hoffnungslos. Die Beteiligten sagen sich selbst: „Es hat alles keinen Sinn“. Der Grund ist, dass ein echter Dialog nicht mehr zustande kommt. Nochmals: Verzeihen ist etwas Dialogisches – sagen wir nun abschließend richtiger: „Etwas zumindest Dialogisches, letztlich nämlich etwas Trialogisches. Denn bei dem ganz oder vollständig gelingenden Verzeihen kommt auch Gott mit ins Spiel. Und auch die hoffnungslos wirkenden Situationen können nur durch das Gebet überwunden werden. Nur Gott, der „dritte im Bunde“ des gelingenden Verzeihens kann eine Hoffnung jenseits aller (natürlich-irdischen) Hoffnung eröffnen. Und diese Einsicht sollte eigentlich auch ein positives Licht auf das Sakrament der Buße und Versöhnung werfen.