Das furchtbare Gemetzel in den Schlachten des Ersten Weltkriegs, die Oktoberrevolution in Russland – das war 1917. Im selben Jahr spricht in einer entlegenen Gegend Portugals die Gottesmutter zu drei Kindern. Ungefähr 70.000 Menschen erleben das „Sonnenwunder“ am 13. Oktober 1917. Unter den neueren Marienerscheinungen nimmt das Geschehen von Fatima einen besonderen Rang ein. Man hat schon früh erkannt, dass das, was die Bedeutung der Marienerscheinungen ausmacht, in Fatima „in einer besonderen Dichte und Prägnanz auftritt“1: die lebendige Verkündigung der biblischen Botschaft, die konzentrierte Darbietung wesentlicher Glaubenswahrheiten, die ernste Verpflichtung zu einem Leben nach dem Evangelium, die Erhellung der Krisensituation der Menschheit zwischen zwei Weltkriegen und ihren katastrophalen Auswirkungen in einer Flut von Menschenverachtung, Gewalt, Gottesleugnung und moralischem Verfall. Die Botschaft von Fatima lässt sich in dem Satz zusammenfassen, den die Seherkinder anlässlich der dritten Erscheinung von Maria hörten: „Wenn man das tut, was ich euch sage, werden viele Seelen gerettet, und der Friede wird kommen.“
In diesem Sinn ist Fatima – wie alle prophetischen Anrufe in der Heilsgeschichte – Verheißung und Warnung zugleich. In dieser Botschaft „liegen Hoffnung und Gefährdung, Heil und Unheil, Gnade und Gericht eng beieinander. Der Mensch ist aufgerufen, sich angesichts dieser unendlichen Möglichkeiten, die in der dramatischen Zeitsituation angelegt sind, zu entscheiden.“2 Hier kommen einem die Worte im Buch Deuteronomium (Dtn 30, 15–19), die Gott zu seinem Volk spricht, in den Sinn: „Hiermit lege ich dir heute das Leben und das Glück, den Tod und das Unglück vor. Wenn du auf die Gebote des Herrn … hörst, … dann wirst du leben. … Wenn du aber dein Herz abwendest und nicht hörst, wenn du dich verführen lässt, dich vor anderen Göttern niederwirfst und ihnen dienst, … dann werdet ihr ausgetilgt werden. … Leben und Tod lege ich dir vor, Segen und Fluch. Wähle also das Leben, damit du lebst, du und deine Nachkommen.“ Die Reaktionen auf die von den Seherkindern überbrachte Botschaft der Gottesmutter waren von einem Auf und Ab von Anerkennung und Ablehnung geprägt. Da gab es das Schwanken der Öffentlichkeit, die Zurückhaltung der kirchlichen Autoritäten, die Drohungen der staatlichen Behörden, schließlich das Anwachsen der Wallfahrt und die Anerkennung der Erscheinungen durch den Bischof von Fatima im Hirtenbrief vom 13. Oktober 1930.
Bereits bei der ersten Erscheinung klingt in der Frage Marias das charakteristische Grundmotiv von Fatima an: „Wollt ihr euch Gott schenken, bereit, jedes Opfer zu bringen und jedes Leiden anzunehmen, das Er euch schicken wird, als Sühne für die vielen Sünden, durch die die göttliche Majestät beleidigt wird, um die Bekehrung der Sünder, von denen so viele auf die Hölle zueilen, zu erlangen und als Genugtuung für die Flüche und alle übrigen Beleidigungen, die dem Unbefleckten Herzen Mariens zugefügt werden?“3
Die wohl inhalts- und folgenreichste Erscheinung war die dritte (vom 13. Juli 1917): Hier weiten sich die mit persönlichen Anweisungen beginnenden Worte Marias zu grundsätzlichen Mahnungen und Verheißungen an die Menschheit aus, auf deren Friedlosigkeit hingewiesen wird. Mit großem Nachdruck spricht die Gottesmutter die Forderung nach dem beständigen Beten des Rosenkranzes aus: „Ich möchte, dass ihr am Dreizehnten des kommenden Monats wieder hierher kommt, dass ihr weiterhin jeden Tag den Rosenkranz zu Ehren Unserer Lieben Frau vom Rosenkranz betet, um den Frieden für die Welt und das Ende des Krieges zu erlangen, denn nur sie allein kann es erreichen.“4
Im Hinblick auf das Thema „Rosenkranzgebet“ ist das Apostolische Schreiben Papst Pauls VI. über die rechte Weise und Förderung der Marienverehrung „Marialis cultus“ (1974) von besonderer Bedeutung.5 Papst Paul VI. stellt in diesem Schreiben fest: Das Rosenkranzgebet betrachtet „die hauptsächlichsten Heilsereignisse des Lebens Christi“. Dieses Gebet ist ein „evangelisches Gebet“, das ganz ausgerichtet ist „auf das Geheimnis der Menschwerdung und der Erlösung des Menschen“. Das Rosenkranzgebet hat „eine ausgesprochen christologische Orientierung“. Nach dem Stundengebet, in dem das Familiengebet seinen Höhepunkt erreichen kann, „ist zweifellos der Rosenkranz unter die besten und wirksamsten Formen gemeinschaftlichen Betens zu rechnen, zu der man eine christliche Familie einladen kann.“6
Leo Kardinal Scheffczyk hat den Versuch unternommen, die Botschaft von Fatima als Kurzformel des Glaubens zu interpretieren: Als „Kurzevangelium“ erweisen sich die Worte der Madonna von Fatima zuallererst darin, dass sie den Menschen einer Gott entfremdeten Welt die Wirklichkeit und Lebendigkeit Gottes von neuem zu Bewusstsein bringt.7 Es ist im Grunde eine Botschaft der Erlösung an eine Welt, die angeblich der Erlösung nicht mehr bedarf. Diesbezüglich verdient ein Wort von Jürgen Habermas Beachtung. Dieser Philosoph sagt in seinem Werk „Philosophischpolitische Profile“, dass in der neuzeitlichen Gesellschaft „zum ersten Mal der Verlust der Erlösungshoffnung und Gnadenerwartung als ein allgemeines Phänomen“8 festzustellen sei. In Wirklichkeit aber ist der wahre innere Zustand der Menschheit so beschaffen, dass wir unsere Erlösungsbedürftigkeit nicht leugnen können.
Fatima verkündet – wie das ganze Evangelium – die Freude über die Erlösung durch Christus. Maria möchte die Menschen zur Annahme des von Gott geschenkten Heils bewegen und einen Weg aufzeigen. In der dritten Erscheinung (13. Juli 1917) sagt sie: „Wenn man tut, was ich euch sage, werden viele gerettet werden, und es wird Friede sein … Am Ende wird mein unbeflecktes Herz triumphieren.“9 Diese Botschaft verheißt ewiges Heil und zeitliches Glück, übernatürliche Seligkeit und irdischen Frieden. Die Botschaft der Madonna von Fatima will uns – so Papst Benedikt XVI. – helfen, die Zeichen der Zeit zu verstehen „und auf sie die richtige Antwort im Glauben zu finden“.10
Der „Weckruf von Fatima“ ist – so Johannes Paul II. – „inhaltlich im Evangelium und in der ganzen Tradition so tief verwurzelt, dass sich die Kirche dieser Botschaft verpflichtet fühlt.“11 Wenn die Kirche die Botschaft von Fatima angenommen hat, – so Papst Johannes Paul II. am 13. Mai 1982 in seiner Predigt in Fatima, genau ein Jahr, nachdem er vom Attentäter auf dem Petersplatz in Rom niedergeschossen wurde – dann vor allem deshalb, „weil sie eine Wahrheit und einen Ruf enthält, der in ihrem wesentlichen Inhalt die Wahrheit und der Ruf des Evangeliums selbst sind“.12 Die Botschaft der Madonna von Fatima ist im Wesentlichen „der Ruf zur Umkehr und Buße, wie im Evangelium“.13 Der Ruf zur Umkehr verbindet sich immer mit dem Ruf zum Gebet.
Nicht nur die Diktaturen des 20. Jahrhunderts, sondern auch verschiedene Ideologien in Vergangenheit und Gegenwart haben die Leugnung Gottes, die Streichung Gottes aus der Gedankenwelt des Menschen, die Zurückweisung Gottes zum Programm erhoben. Das ewige Heil des Menschen ist aber nur in Gott zu finden. Maria ersehnt mit der ganzen Kraft ihrer Liebe das Heil jedes Menschen und kann deshalb zu dem, was dieses Heil von Grund auf gefährdet, nicht schweigen. Die Liebe der Mutter Christi und der Mutter der Kirche ist besorgt um alle Menschen unserer Zeit und zugleich um die Völker, um die von Glaubensabfall und sittlichem Verfall bedrohte Gesellschaft.
Die Botschaft von Fatima ist eng verbunden mit der Weihe der Welt an das unbefleckte Herz Mariens. Was ist damit gemeint? Das makellose, sündenfreie Herz Marias steht in engster Verbindung mit dem Herzen ihres Sohnes. Das Herz der Gottesmutter ist mit derselben Liebe zum Menschen geöffnet, mit welcher Christus den Menschen geliebt hat und sich am Kreuz hingab. Die Welt dem unbefleckten Herzen Mariens weihen heißt, dass wir uns mit der Fürsprache dieser Mutter dem Lebensquell des Herzens Jesu nähern. Aus der Quelle des Herzens Jesu sprudeln ununterbrochen Erlösung und Gnade. Das Herz Jesu ist Ursprung neuen Lebens und neuer Heiligkeit. Die Welt und die Menschen dem sündenfreien Herzen Mariens weihen heißt, sich von der Mutter Christi helfen lassen bei der Rückkehr zur Quelle der Erlösung.
Die Antwort der Kirche gab Papst Pius XII., der genau am Erscheinungstag 13. Mai 1917 zum Bischof geweiht wurde, als er 1942 die Menschheit dem Unbefleckten Herzen Mariens weihte.14 Papst Johannes Paul II. hat am 25. März 1984 in Rom diese Weihe an das Unbefleckte Herz Mariens erneuert. Der Papst aus Polen hat „gewaltige Schritte unternommen, um in der Kirche die prophetische Botschaft von Fatima zu fördern.“15 In den Jahren nach der feierlichen Weihe an das Unbefleckte Herz Mariens 1984 ist das kommunistische System in der Sowjetunion und in den anderen Ländern des Ostblocks zusammengebrochen. Der Ruf zu Buße und Umkehr im Geist des Evangeliums, der durch die Worte Marias an uns gerichtet worden ist, ist immer aktuell. Angesichts neuer Bedrohungen der Menschheit (Terrorismus, Kriege, Vertreibung, Hunger, Verelendung von Menschen) ist er auch heute dringlich.
Vor welchen besonderen Herausforderungen stehen wir heute? Wir können an die Säkularisierung und an den Glaubensschwund in Europa denken. Weltpolitisch gesehen ist gegenwärtig vielleicht ein radikalisierter und fanatisierter Islam die größte Herausforderung. Wir können nur hoffen und beten, dass dieser extreme Islam wieder zurückgenommen wird und dass der Terrorismus ein Ende hat. Peter Scholl-Latour hat einmal festgestellt, der Westen müsse Angst haben vor seiner eigenen Glaubensschwäche. In seiner Predigt im Juni 2016 in Fatima hat Bischof Rudolf Voderholzer gesagt: „Bitten wir die Gottesmutter auch, dass sie in dieser weltgeschichtlich außerordentlich angespannten und bedrohlichen Situation das Ihre dazutue, dass sich alle Herzen dem wahren Gott in Jesus Christus zuwenden als der Quelle des wahren Friedens.“16
Der Bamberger Erzbischof Ludwig Schick hat 2017 in der „Tagespost“ einen Beitrag mit dem Titel „Die Botschaft von Fatima ist heute so modern wie vor hundert Jahren“ verfasst: Wir leben – so Erzbischof Schick – „in einer Zeit, in der es unendlich viele … Möglichkeiten und Versuchungen der Gottvergessenheit gibt. Durch … die Informationsflut wird das Gebet, das Verweilen bei Gott, das Lesen und Betrachten des Lebens Jesu noch schwieriger. Wer heute beten will, muss sich die notwendige Zeit, die Ruhe und die Konzentration dafür erkämpfen. Doch dieser Kampf lohnt sich! Wer mit Gott verbunden ist, der bleibt in der Hoffnung und Zuversicht, der bleibt in der Freude und in der Liebe, der wirkt zur Ehre Gottes und zum Heil der Menschen.“ Die Botschaft von Fatima zeigt, wie wir Christen leben sollen, was der Welt zum Heil und zum Frieden dient und wie alle Menschen in den Himmel kommen können.“
1 Leo Kardinal Scheffczyk, Die Botschaft des Friedens von Fatima, in: ders., Maria. Mutter und Gefährtin Christi, Augsburg 2003, 281–356, hier 293.
2 Ebd.
3 Zitiert nach: Leo Kardinal Scheffczyk, Die Botschaft des Friedens von Fatima, 300. – Vgl. auch Wolfgang Vogl, Die Botschaft von Fatima. Christliche Sühnespiritualität im Geiste Fatimas, in: Josef Kreiml / Sigmund Bonk (Hg.), 100 Jahre Botschaft von Fatima. Mitverantwortung für das Heil der anderen. Mit einem Geleitwort von Bischof Rudolf Voderholzer, Regensburg 2017, 22–39.
4 Zitiert nach: Leo Kardinal Scheffczyk, Die Botschaft des Friedens von Fatima, 302.
5 Vgl. Josef Kreiml, Zentrale Aspekte der Marienverehrung. Das Apostolische Schreiben Papst Pauls VI. „Marialis cultus“ (1974), in: J. Kreiml / S. Bonk (Hg.), 100 Jahre Botschaft von Fatima, 14–20.
6 Vgl. „Marialis cultus“, Nr. 45, 46 und 54.
7 Vgl. Leo Kardinal Scheffczyk, Die Botschaft des Friedens von Fatima, 311.
8 Zitiert nach: ebd.
9 Zitiert nach: ebd., 330
10 Zitiert nach: Christian Schulz, Papst Benedikt XVI. und die bleibende Bedeutung von Fatima, in: J. Kreiml / S. Bonk (Hg.), 100 Jahre Botschaft von Fatima, 114– 120, hier 117.
11 Zitiert nach: Josef Kreiml, Papst Johannes Paul II. und Fatima, in: ders. / S. Bonk (Hg.), 100 Jahre Botschaft von Fatima, 106–113, hier 111.
12 Zitiert nach: Josef Kreiml, Papst Johannes Paul II. und Fatima, 110.
13 Zitiert nach: ebd.
14 Zur Weihe Russlands vgl. Manfred Hauke, Der heilige Johannes Paul II. und Fatima, in: ders. (Hg.), Fatima – 100 Jahre danach. Geschichte, Botschaft, Relevanz (Mariologische Studien 25), Regensburg 2017, 277– 288.
15 Manfred Hauke, Der heilige Johannes Paul II. und Fatima, 301.
16 Bischof Rudolf Voderholzer, Predigt in Fatima am 14. Juni 2016, in: 50 Jahre Institutum Marianum Regensburg e. V., Regensburg 2016, 93–95, hier 95.
Bild: katholisch.de