Als die Bayerische Verfassung am 1. Dezember 1946 per Volksentscheid von der bayerischen Bevölkerung angenommen wurde und keine drei Jahre später am 23. Mai 1949 das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland in Kraft trat, war eines allen Verantwortlichen von Anfang an klar: Ein Unrechtsregime wie das der Nationalsozialisten darf sich nicht wiederholen. Es hatte den Tod so vieler Menschen zur Folge und zur Zerstörung von Gebäuden und Strukturen, aber auch von Kultur geführt.¹
Die Verfassungsväter und -mütter wollten mit ihren Entwürfen für die Verfassungen Bayerns und Deutschlands über die innerweltliche Orientierung hinausgehen. Während sich die Nationalsozialisten selbst groß gemacht haben und ihre Rassenideologie auf dem Prinzip fußte, bestimmten Gruppen die Menschenwürde zu verweigern, sprachen die neuen Verfassungen die Menschenwürde allen Menschen zu. Das konnten sie nur, indem sie den Respekt vor einem Höheren, vor Gott in der Präambel als unverzichtbare Voraussetzung formulierten.
Vielleicht ist die wahre „Verfassungsmutter“ ja Maria. Warum? Sie ist die Protagonistin schlechthin für den Verweis auf das Höhere, auf Gott – und zwar über alle Konfessionsgrenzen hinweg. Der Beleg dafür ist das Magnificat (Lk 1,46-55), das den Lobpreis Marias während ihres Besuchs bei Elisabeth enthält: Magnificat anima mea Dominum („Meine Seele rühmt oder vergrößert den Herrn bzw. lässt den Herrn groß sein“). Auch im griechischen Ursprungstext des Lukas-Evangeliums heißt es bereits megalynei („vergrößern“), das dann später zum lateinischen magnificat wird.
Augenfällig wird die Grundhaltung Marias, von ihrer eigenen Person abzusehen, auch in der Szene von der Hochzeit in Kana, als sie zur Hochzeitsgesellschaft den einfachen Satz spricht: „Was er euch sagt, das tut!“ (Joh 2,5) Maria spielt, indem sie sich zurücknimmt, eine überragende Rolle. Sie ist entscheidender Teil des Geschehens und steht zugleich darüber. Sie entzieht sich somit menschlichen aber auch hierarchischen Denkkategorien, von Struktur- und Ämterdebatten ganz abgesehen.
Die eher rhetorisch gemeinte Frage „Sagt an, wer ist doch diese?“, die in dem bekannten Kirchenlied aus dem 17. Jahrhundert gestellt wird, ist ein gelungenes Beispiel für eine behutsame Annäherung an die besondere Bedeutung Marias. Die phantasievollen und ausschmückenden Antworten auf die Frage charakterisieren auf bemerkenswerte Weise, wie tief verwurzelt die Verehrung der Gottesmutter Maria im deutschen Sprachraum, insbesondere in Bayern, seit jeher ist.
So erschließt sich vielleicht auch, warum Maria vor nunmehr 100 Jahren von Papst Benedikt XV. zur Patrona Bavariae erklärt wurde. Allein vier Domkirchen in Bayern sind unter das Patronat der Gottesmutter gestellt: der Freisinger Mariendom, die Münchner Frauenkirche sowie der Augsburger und der Eichstätter Dom. Bekannte Wallfahrtsorte wie Altötting, Maria Vesperbild und Bogen, aber auch kleinere Wallfahrtskirchen wie in Allersdorf, Birkenstein, Mariabrunn oder Maria Bürg sind Stein gewordene Zeugen dieser Verehrung.
Diese Verehrung ist auch in vielen Herzen lebendig, vor allem bei älteren Gläubigen. Und auch Jugendliche gehen mit bei den Wallfahrten nach Altötting. Was aber treibt sie an? Steckt mehr dahinter als die sportliche Herausforderung, einen Weg von hundert Kilometern und mehr durchzuhalten? Ist es auch mehr als das Gemeinschaftserlebnis? Und welche Botschaft kann uns Maria heute geben, vielleicht sogar zu einer neuen Begeisterung für den Glauben führen?
Marienverehrung geht zurück auf die biblischen Berichte über die Verheißung der Geburt Jesu (Lk 1,26-38), den Besuch Marias bei Elisabeth (Lk 1,39-56), die Geburt Jesu Christi im Stall von Bethlehem (Lk 2,1-20), die Darstellung Jesu im Tempel (Lk 2,21-40), die Begleitung beim Hochzeitsfest in Kana (Joh 2,1-12) bis hin zum Kreuzestod in Jerusalem, wenn Jesus sich im Angesicht des eigenen Todes noch darum kümmert, seine Mutter versorgt zu wissen (vgl. Joh 19,25-27).
Dies veranschaulicht auf je eigene Weise, dass Maria zwar unzweifelhaft als die Mutter Jesu Christi, des Sohnes Gottes, dargestellt wird. Im selben Atemzug wird jedoch stets deutlich gemacht, dass sie als Mittlerin gilt, dass sie durch das Zurücknehmen ihrer eigenen Person auf den von ihr geborenen Sohn Gottes hinweist.
Der Rosenkranz hat ebenfalls biblische Wurzeln und ist die bekannteste liturgische Form der besonderen Verehrung Marias. Er ist bis heute in der bayerischen Volksfrömmigkeit beheimatet. Das litaneiartige Gebet ermöglicht einen meditativen Zugang zu Maria. Aber auch hier wird immer wieder deutlich, dass sie auf den noch Größeren, auf Gottes Sohn, auf Gott selbst hinweist.
Wenn uns die Verwurzelung der Marienverehrung in den Zeugnissen der Heiligen Schrift bewusst wird, kann es uns gelingen, einen erneuerten Zugang zur Theotokos (Gottesgebärerin) zu finden: einen Zugang, der es den Menschen ermöglicht, über die eigene Person hinaus zu denken, sich selbst zurückzunehmen, mit anderen zu fühlen, zu denken und zu handeln – so wie Maria dies getan hat.
Wie geben wir von unserem Glauben Zeugnis, dass Gott Mensch geworden ist, dass er sich klein gemacht hat, dass er in eine Familie hineingeboren wurde und in ihr aufgewachsen ist, die göttliche Barmherzigkeit verkündet und gelebt hat, ja sogar unsere Sünden auf sich genommen hat bis zum Tod am Kreuz? Diese Botschaft kann befreiend sein, weil sie uns entlastet von unserem Allmachtsanspruch, alles leisten zu wollen und zu können.
Es ist nicht alles machbar, auch mit der neuesten Technologie nicht, auch mit tausend Freunden in sozialen Netzwerken nicht, auch mit der besten körperlichen Verfassung nicht und auch mit dem bestmöglichen Studium und beruflichen Können nicht. Maria könnte uns zum Vorbild werden: Sie lässt los, nimmt sich zurück, aber sie bleibt nicht stumm. Sie hat ihren ganz besonderen Platz im Heilsgeschehen, ohne ihn selbstherrlich zu beanspruchen. Von Überheblichkeit keine Spur.
Dahinter steht die Botschaft der Abkehr vom eitlen Egoismus und der Hinwendung zu Gott, der über uns steht – die Botschaft, trotzdem mitten im Geschehen zu bleiben, es aktiv mitzugestalten und nicht weltfremd zu werden. So wie Maria auf ihre besondere Weise Teil des Heilsgeschehens war, braucht Gott jeden einzelnen Gläubigen auf je unterschiedliche Art mit den ganz unterschiedlichen Begabungen und Talenten. Und die Welt braucht Gott.
Wenn es den aktiven Gläubigen gelingt, diese Mission aufzunehmen und weiterzutragen in die Pfarrgemeinden hinein, in die Jugend- und Seniorengruppen, in die Familienkreise, in alle Verbände und Organisationen, in die Gottesdienste und Wallfahrten, wären wir ein gutes Stück weiter. Wenn wir so auf Menschen zugehen, dann würden wir unseren Glauben in der heutigen Zeit nachvollziehbar, akzeptabel, ja sogar attraktiv verkünden.
Ich würde mir wünschen, dass das 100-jährige Jubiläum der Patrona Bavariae nicht nur eine historische Reminiszenz bleibt. Die sieben Wallfahrten von 2011 bis 2017 in Bayern sollen und dürfen ein schönes Gemeinschaftserlebnis sein – der Glaube braucht auch Gemeinschaft. Die Wallfahrten sollten aber auch eine inhaltliche, eine innere Wirkung entfalten, die lange anhält.
1 Der folgende Beitrag von Dr. Dr. h. c. A. Schmid wurde ursprünglich veröffentlicht in: Josef Kreiml / Veit Neumann (Hg.), 100 Jahre Patrona Bavariae. Marienverehrung in Bayern, (Regensburger Marianische Beiträge, Bd. 1), Regensburg 2017, 59-62.